Krieg und Frieden

Mit 16 habe ich „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi gelesen, eine zweibändige Ausgabe meiner Eltern aus den 1960er Jahren. In langen Sommerferien am Badesee las ich über eiskalte Winter in Moskau und Sankt Petersburg, über Schlachtengemetzel und Verhandlungen, Paläste und Bälle, Schmutz und Schlamm, adelige Damen und Herrren, die sich stritten und vertrugen, die heirateten und sich trennten, sich liebten, betrogen und in neuen Konstellationen ein neues Glück erprobten. Es war keine Schullektüre für mich, ich musste das nicht lesen und also auch nicht analysieren. Ich hatte keine Gesprächspartner, die damals ausführlich mit mir über die russische Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhunderts diskutieren wollten. Also ließ ich diese Lektüre – einfach sacken.

Mit 26 studierte ich „Internationale Beziehungen“ im inzwischen gefallenen Turm der Frankfurter Uni. Dort lernte ich mit großem Erstaunen, dass frühere Generationen bis ins 20. Jahrhundert hinein den Wechsel von Krieg und Frieden als so etwas wie naturgegeben hinnahmen, dass Frieden nicht per se als erstrebenswert galt, dass Kriegsphasen oft länger andauerten als Phasen des Friedens, dass also immer der nächste Krieg drohte – und mit ihm Gewalt, Tod, Hunger, Vertreibung, Obdachlosigkeit, Flucht. Krieg und Frieden so gleichwertig nebeneinander, dies kann nur daran gelegen haben, dass diejenigen, die am meisten unter ihm zu leiden hatten, nicht gefragt wurden. Und dass sie dumm in dem Glauben gehalten wurden, mit einem Krieg sei in kurzer Zeit Reichtum, Ehre und ein besseres Leben zu erringen. Eine Doku-Serie zum Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs, die 2014 in der ARD lief und auf 14 privaten Tagebüchern beruht, brachte einem dies sehr nahe.

Aber wie hielten Menschen die Realität des Krieges aus? Waren sie in früheren Zeiten stärker, abgehärteter, eher bereit zum Verzicht und zum Sterben? Oder waren sie schlicht immer wieder so geschwächt, eingeschüchtert, fatalistisch, traumatisiert und damit verkapselt im Eigenen, dass ein Sichauflehnen als Option gar nicht erst aufkam? Die Französische Revolution und der Kampf um Demokratie und Sozialismus in Europa nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten gezeigt, dass Auflehnung und Übergänge in neue Gesellschaftsordnungen möglich sind, doch immer kam danach auch die Gegenbewegung, der Rückschlag. Und bald sehnten sich viele nach der alten Ordnung, nach starken Männern zurück. Und gaben beim Urnengang entsprechend ihre Stimme ab.

Deutschland hat schlechte Erfahrungen mit angeblich starken Männern, besonders mit einem. Ich bin in den 1970er Jahren in dem Glauben aufgewachsen, dies alles sei vorbei. Wir hätten unsere Lektion gelernt, so etwas wie das Verbrechen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs werde von Deutschland nie wieder ausgehen. 15 Jahre später fiel uns Westdeutschen dann sogar die Wiedervereinigung in den Schoß – ohne Krieg, den Konflikt hatten Ostdeutsche jenseits des Eisernen Vorhangs mit beharrlichen Demonstrationen gewonnen.

Und wie gehen wir heute damit um, wenn Konflikte näher rücken, wenn sie uns wirklich zu betreffen beginnen? Die Jugoslawienkriege um die Jahrtausendwende zeigten uns schon, dass Europa keinen Schutzfilm gegen Krieg besitzt. Und nun? Der Krieg ist nah und spürbar. Viele ukrainische Menschen suchen Schutz in Deutschland, und ihr Schicksal scheint viele bei uns mehr zu berühren als das von syrischen, afghanischen oder solchen aus dem Sudan. Warum eigentlich? Ist es die geringere Distanz an zurückgelegten Kilometern, die Zugehörigkeit zu Europa ein Grund für mehr Recht auf Menschlichkeit?

Nervosität kam auf, als die Öl-, Gas- und Benzinpreise stiegen, Baustoffe und Lebensmittel teurer wurden, die Inflationsrate in lange nicht gekannte Höhen stieg. Die Gastronomie realisiert enorm hohe Aufschläge, vielleicht um sich ein wenig der entgangenen Einnahmen in Pandemiezeiten zurückzuholen. Die Apotheken haben derweil teils leere Regale, bestimmte Medikamente sind wochenlang nicht erhältlich, die globalisierte Arbeitsteilung funktioniert nicht mehr so gut, Lieferketten sind brüchig geworden. Der Überfluss an günstigem Weizen, der letztes Jahr teuer war, stellt aktuell die Loyalität Polens gegenüber der Ukraine auf die Probe. Wir erinnern uns, dass Toilettenpapier und Öl vor zwei Jahren pandemiebedingt als Mangelware galten – und waren selbst dadurch schon so irritiert, dass unser sicheres Weltbild zu kippen drohte. Auch wenn hinterher herauskam, dass der Mangel nur durchs Horten zu Hause entstand. Szenen aus Supermärkten, wo Menschen um Sonnenblumenöl und Klopapier mit anderen Menschen rangen, belustigten und entsetzten zugleich.

Doch sind wir bereit, auch für mehr und Abstrakteres als eine Flasche Sonnenblumenöl die Muskeln und das Hirn anzuspannen? Uns für andere und damit letztlich womöglich auch für uns selbst einzusetzen? Wie übt man Menschlichkeit, Einfühlung, Respekt, Gelassenheit, Resilienz gegen Populismus? Wie übt man aufrechte Haltung, wie lehrt man sie Kindern und Jugendlichen? Und wären die Deutschen, Männer und Frauen und alles dazwischen, wieder bereit, sich in einen kriegerischen Konflikt zu begeben? Einen vielleicht gerechtfertigten, vielleicht notwendigen? Wäre das richtig oder gibt es einfach keinen zu gerechtfertigenden Krieg? Ich ringe auch mit mir selbst, der Konflikt treibt mich um. Das Wort „Zeitenwende“ ist mir zu groß und nichtssagend zugleich, ich will zu einer nicht vorgegebenen, eigenen Haltung finden, auch schreibend.